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Gazas Not, Netanjahus Regierung und Israels Sicherheit: Zur Frage der deutschen Staatsräson

Israel-Palästina by Gwengoat istock

Israel-Palästina by Gwengoat istock

In jedem Augenblick der letzten Jahrzehnte hat uns unsere militärische Stärke vor Zerstörung und Vernichtung bewahrt. […] Aber wir können die Kriege nicht gewinnen, einfach deshalb, weil wir keine gemeinsam vereinbarten nationalen Ziele haben, die man mit militärischer Stärke erreichen könnte.   
(Amos Oz, „Träume, von denen sich Israel möglichst bald befreien sollte“, 2018)

 

Mehr als eineinhalb Jahre Krieg zwischen Hamas und Israel hinterlassen den Eindruck: Der Konflikt wird von kompromissunfähigen Akteuren auf beiden Seiten getrieben, die die fortwährende Gewalt brauchen, um selbst politisch zu überleben. Bei den Terroristen der Hamas war das von jeher Teil des Ansatzes und der geistigen Grundausstattung. Im Falle Israels hat der politische Extremismus erst jüngst auf der Regierungsbank platzgenommen. Von dort wurde die rhetorische Schärfe nach und nach in weitreichende Entscheidungen zur Kriegsführung in Gaza übersetzt. Mit der drohenden Besetzung von Gaza-Stadt ist auch Deutschland aufgefordert, seinen Kurs gegenüber der israelischen Regierung zu ändern. Motive dafür liefern sowohl das dramatische Elend in Gaza als auch die innerisraelische Kritik an Netanjahus Kurs aus den Familien der Geiseln, der Zivilgesellschaft, der Opposition und Teilen des Militärs.

Emanuel Herold, Sprecher für Europapolitik und Entwicklungszusammenarbeit, hat für die grüne Bürgerschaftsfraktion diesen Text verfasst, der das Kriegsgeschehen seit dem 7. Oktober 2023 betrachtet und für einen Waffenstillstand argumentiert. Er wirft einen Blick auf den Verlauf des jüngsten Israel-Gaza-Kriegs und zeichnet nach, wie die Regierung Netanjahu international für ihren Kurs immer stärker an Rückhalt verloren hat. Einen fundamentalen Wendepunkt markiert dabei die israelische Blockade humanitärer Hilfe im Frühjahr 2025, die die kritische Situation der Menschen im Gazastreifen sehenden Auges verschlimmerte. Dies hat die humanitäre Lage an den Rand einer massenhaften Hungersnot geführt. Eine Besetzung Gazas durch Israels Armee muss daher von der internationalen Gemeinschaft abgewendet werden. Dies ist auch im Interesse von Israels langfristiger Sicherheit und seiner inneren Stabilität.

7. Oktober

Es muss unhintergehbarer Ausgangspunkt jeder Diskussion über den Krieg in Gaza bleiben, dass die Hamas diesen Krieg mit ihrem Angriff am 7. Oktober 2023 begonnen hat. Das Abschlachten von über 1200 israelischen Zivilisten und die Geiselnahme von über 250 Menschen übersteigen die vergangenen Attacken und Anschläge der Hamas um ein Vielfaches hinsichtlich der Zahl der Opfer als auch in der Art des Vorgehens. Die Agenda der Hamas, Israel zu vernichten und damit Millionen jüdische Menschen zu töten und zu vertreiben, hat sich in diesem Überfall manifestiert.

Hamas‘ genozidale Ziele samt der Strategie, zivile Infrastrukturen als Schutzschild gegen militärische Schläge Israels zu nutzen, müssen uns immer vor Augen stehen, wenn wir Israels militärisches Handeln bewerten. Die Hamas nimmt von jeher Opfer unter der Zivilbevölkerung Gazas in Kauf. Und sie rechnet in dieser Hinsicht auch nicht zimperlich, wie dem überlieferten Satz des Hamas-Führers Yahya Sinwar zu entnehmen ist, man sei „bereit, zwanzigtausend, dreißigtausend, hunderttausend zu opfern“. Das zeigt, in welchem Dilemma der israelische Staat sich befindet: Er kann wählen zwischen (1) der Bereitschaft, sich regelmäßig aus dem Gazastreifen heraus angreifen zu lassen, ohne militärisch durchgreifend zu reagieren und damit die Fähigkeiten des Angreifers entscheidend zu schwächen; oder (2) er reagiert militärisch mit durchschlagender Härte, um den Angreifer dauerhaft außer Gefecht zu setzen, kann das aber nur, wenn er seinerseits eine erhebliche Zahl von zivilen Opfern in Kauf nimmt.

Der militärische Ansatz der Hamas ist darauf ausgerichtet, in der weltweiten Wahrnehmung eine Täter-Opfer-Umkehr zu bewirken. Israel kann die Hamas nicht dauerhaft militärisch in die Schranken weisen, ohne dabei viele zivile Opfer und die entsprechenden Bilder hervorzurufen, egal wie viele Flugblätter und Ankündigungen das israelische Militär jedem Bombenabwurf vorausschickt. Entscheidend bleibt, dass die Hamas mit ihrer großflächigen Untertunnelung des Gazastreifens zu militärischen Zwecken diese tödliche Konstellation systematisch geschaffen hat.

Für die eben geschilderte Variante 1 entschieden sich Israels Regierungen bei den militärischen Auseinandersetzungen mit der Hamas 2008 und 2014. Offenbar war das Kalkül der Hamas-Führung, die Vielzahl von Geiseln werde die militärische Reaktion Israels auch diesmal mäßigen, trotz der historischen Dimensionen der Gräueltaten vom 7. Oktober. Die israelische Regierung unter Netanjahu entschied zu Recht anders.

Selbstverteidigung und Abschreckung

Israels unmittelbare Reaktion auf den 7. Oktober folgt klar dem Motiv der Selbstverteidigung. Das Ausmaß der sich anschließenden militärischen Operationen Israels speist sich aus dem Ausmaß des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober und dem Kontext der gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Hamas, seit diese nach Israels Rückzug aus dem Gazastreifen die Macht in Gaza übernommen hatte.

Die Massivität der israelischen Reaktion folgte zunächst dem militärischen Ziel, die Hamas dauerhaft unschädlich zu machen. Zu bedenken ist dabei: Wenn Israel gegen die Hamas kämpft, kämpft es nicht nur gegen die Hamas, sondern gegen eine Allianz von Kräften, die eine Zerstörung Israels als erklärtes Ziel haben. Zu dieser Allianz gehören neben der Hamas der Iran, die Hisbollah im Libanon und Syrien sowie die Huthi im Jemen. Dieser vom Iran finanzierte „doppelte Halbmond“, der Israel militärisch einkreist, ist vor den Augen der internationalen Gemeinschaft über viele Jahre aufgerüstet worden.

Israels Bevölkerung musste befürchten – und die Hamas hoffte offenbar –, dass der 7. Oktober zu einem Fanal würde, der in einen großen Angriff dieser Allianz gegen ihr Land mündet. Damit tritt ein zweites Motiv hinzu, welches das militärische Vorgehen Israels seit Beginn des Kriegs leitet: Abschreckung. Der Hisbollah im Süden Libanons wurde durch die flächendeckende Bombardierung des Gazastreifens aufgezeigt, was ihr droht, sollte sie einen ähnlichen Angriff wagen. Denn im Südlibanon ist die Konstellation dieselbe: Die großen Raketenarsenale dieser fundamentalistischen Miliz, welche ebenfalls die Vernichtung Israels als ausdrückliches Ziel hat, befinden sich ebenfalls unter zivilen Einrichtungen und in Wohngebieten. Gemessen an ihrem militärischen Potenzial führte die Hisbollah nach dem 7. Oktober nur zögerliche Attacken auf Israels Norden durch. Das lässt im Nachhinein den Schluss zu, dass die israelische Abschreckung durch die Härte im Gaza-Streifen funktioniert hat.

Das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza und die hohen Opferzahlen gerade unter vulnerablen Gruppen wie Kindern, Kranken und Alten sind erschütternd. Die Hamas hat im Gazastreifen über Jahre die Grenzen von militärischen und zivilen Infrastrukturen gezielt verwischt und Israel in einen asymmetrischen Krieg gezwungen, der notgedrungen viele Opfer hervorbringt. Spätestens im Frühsommer 2024 drehte sich die internationale Stimmung jedoch. Die Offensive auf die Stadt Rafah und die abermalige Evakuierung der Bevölkerung ließ Fragen nach der Verhältnismäßigkeit immer dringlicher werden. Durch die Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof wird sich Israels Regierung der Frage stellen müssen, welche ihrer Schritte völkerrechtlich noch vom Selbstverteidigungsmotiv gedeckt sind und wo diese Grenze überschritten wurde.

Innerhalb Israels drängen Teile der Zivilgesellschaft, zusammen mit den Familien der Geiseln, immer wiederin großen Demonstrationen auf einen Deal, um den Krieg zu beenden und die restlichen Geiseln zu retten. Der innerisraelische Widerstand gegen den Krieg gründet sich in erster Linie auf das Schicksal der Geiseln, wenngleich viele Aktivist*innen versuchen, das Leid der Menschen in Gaza stärker ins Zentrum der israelischen Öffentlichkeit zu rücken.

Regionale Dominanz

Obwohl auch innerhalb der israelischen Armeeführung die Vorbehalte gegen eine ungebremste Fortsetzung des Kriegs wuchsen und die Regierung in wachsende Konflikte mit dem eigenen Militär geriet, führte Netanjahus Regierung den Krieg fort. Die israelischen Sicherheitskräfte insgesamt konnten mit Beginn des zweiten Kriegsjahrs noch einige militärische Erfolge erzielen: Die Hamas wurde weiter dezimiert, u.a. durch die symbolträchtige Tötung des mutmaßlichen Drahtziehers des 7. Oktobers, des erwähnten Hamas-Chefs Yahya Sinwar. Die Hisbollah im Libanon und Syrien wurde durch gezielte Angriffe der israelischen Luftwaffe sowie die „Pager-Operation“ des Mossads handlungsunfähig. Die Hisbollah in Syrien zerfiel endgültig im Zuge der Rebellen-Offensive, die Diktator und Iran-Partner Assad im Dezember zu Fall brachte. Israels Militär zerstörte daraufhin militärische Anlagen in Syrien nördlich seiner Grenze, damit sie von islamistischen Gruppen nicht gegen das Land eingesetzt werden können.

Israels Militär, Geheimdienste und Regierung hatten bis zum Ende des Jahres 2024 ein noch über die Abschreckung hinausreichendes Ziel erreicht, nämlich regionale militärische Dominanz. Innerhalb eines reichlichen Jahres hatten sich die Machtverhältnisse im Nahen Osten neu geordnet. Israel war gegenüber der Bedrohung durch den Iran und seine Verbündeten sicherer als lange Zeit vor dem 7. Oktober.Die hohen Opferzahlen auf palästinensischer Seite und die immer dramatischere humanitäre Lage waren zu diesem Zeitpunkt durch sicherheitspolitische Erwägungen nicht mehr aufzuwiegen. Israels Regierung hatte aufgrund der Verwüstungen in Gaza zu diesem Zeitpunkt bereits einen hohen diplomatischen Preis hinsichtlich seines internationalen Rückhalts gezahlt, so dass ein Bemühen um die Freilassung der verbliebenen Geiseln auf dem Verhandlungsweg auch deswegen geboten schien.

Netanjahus Regierung führte den Krieg, nach einer seit Januar geltenden Waffenruhe, im März 2025 dennoch fort. Die Gründe dafür waren nach außen zwar in Kategorien der militärischen Bedrohung formuliert, aber nachweislich vor allem innenpolitisch motiviert. Die Unverhältnismäßigkeit des israelischen Vorgehens war spätestens damit nicht mehr zu leugnen. Unter dem Druck der israelischen Rechtsextremen haben sich die Ziele der Regierung Netanjahu verschoben.

Hunger und Verachtung

Die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen ging einher mit der israelischen Blockade von Hilfslieferungennach Gaza. Diese Maßnahme traf undifferenziert alle, die sich dort befinden. Mit der rund zehnwöchigen Blockade hat Israels Regierung einen moralischen Abgrund durchquert, der nicht mehr – wie etwa im Falle der zahlreichen zivilen Opfer der israelischen Luftangriffe – von der Hamas vorgezeichnet war, sondern den sie selbst gewählt hat, obwohl das militärisch weder notwendig noch rückblickend in irgendeiner Weise zielführend war.

Diese Blockade humanitärer Hilfe im Nachhinein als „Fehler“ zu bezeichnen, wäre eine Beschönigung: Sie war eine humanitäre Grausamkeit, ein strategischer Irrweg und ein diplomatisches Desaster. Die beschleunigte Erosion des ohnehin schwindenden internationalen Rückhalts droht nun, das Land Israel auf Dauer weniger sicher zu machen. Die Regierung von Benjamin Netanjahu hat das ebenso zu verantworten wie sie die Opfer zu verantworten hat, die im Zuge der weitgehend gescheiterten Verteilaktionen der Gaza Humanitarian Foundation ums Leben gekommen sind. Diese Opfer lassen sich nicht mehr der Hamas zurechnen, die zweifellos die Kriegsschuld trägt, sondern sie sind in erster Linie die Opfer einer verwerflichen Politik der Netanjahu-Regierung.

Dass mittlerweile israelische Ex-Generäle, Ex-Gemeindienstchefs und ehemalige Ministerpräsidenten (Barak und Olmert) ein Ende des Kriegs fordern, zeigt, dass Netanjahus Regierung fernab jedweder militärisch nachvollziehbaren Strategie agiert. Die Art der Kriegsführung, die die israelische Regierung gewählt hat, wird dabei nicht nur als Sicherheitsrisiko, sondern als gesellschaftliche Krise beurteilt: „This war started as a just war. It was a defensive war. But once we achieved all its military objectives, once we achieved a brilliant military victory against all our enemies, this war stopped being a just war. It is leading the State of Israel to the loss of its security and identity.” Im Anschluss an die Aussagen des israelischen Schriftstellers David Grossman hat sich zudem in Israel eine scharfe Debatte um den Genozid-Begriff entfaltet, die nach dem Urteil des Internationalen Gerichtshofs so noch nicht stattgefunden hatte.

Die humanitären Verwüstungen, die insbesondere das letzte halbe Jahr in Gaza hinterlassen haben, machen Assoziationen zwischen der aktuellen Lage und der Nakba 1948 sehr nachvollziehbar. Teilen von Netanjahus Koalition ist das sicherlich gleich: Treibende Kraft hinter der Blockade und der Fortsetzung des Kriegs sind die Rechtsextremisten in der Regierung, die durch Netanjahus Willen zum persönlichen Machterhalt weit mehr politisches Gewicht haben, als ihnen rein mit Blick auf ihre Größe in der Knesset zukommen würde. Vertreter dieses extremistischen Flügels machen die Palästinenser*innen als „Monster aus Gaza“ verächtlich, fordern schon länger deren „forcierte Migration in andere Länder“ und fantasierten mitunter darüber, „zwei Millionen Zivilisten verhungern zu lassen“. Ihre dezidiert antiarabische Vision von „Großisrael“ schließt eine Annexion des Westjordanlandes ein. Sie ist, in abgeschwächter Form, im Koalitionsvertrag der amtierenden Regierung Netanjahu enthalten: „Das jüdische Volk hat ein exklusives und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel“ (zitiert nach R. Schneider, Die Sache mit Israel, S. 188).

Die ideologische Radikalität der israelischen Regierung befeuert den Konflikt und schafft auf Seiten der Palästinenser*innen wiederum Motive zur fortgesetzten Unterstützung der Hamas, die die Opfer des Krieges als „Märtyrer“ verbrämt. In Deutschland wurde die Bedeutung dieser Dynamik zu lange unterschätzt. Israels Regierung ist von dem Ziel, die Hamas und ihre Partner substanziell und dauerhaft zu schwächen, übergegangen zum Ziel der Rechtsextremen, den Gazastreifen zu besetzen. Diese wollen dort künftig jüdische Siedlungen gründen und die Zwei-Staaten-Lösung endgültig unmöglich machen.

Netanjahus Untergrabung der Zwei-Staaten-Lösung

Es ist ein fatales Erbe der gesamten Ära Benjamin Netanjahus, dass sich weite Teile der israelischen Öffentlichkeit schleichend von der Zwei-Staaten-Lösung verabschiedet haben. Dazu beigetragen haben die wiederkehrenden Terroranschläge und Raketenangriffe der Hamas, aber auch die über mehrere Legislaturen immer stärker ausgeweitete israelische Siedlungspolitik im Westjordanland. Netanjahu hat von Wahl zu Wahl politische Allianzen geschmiedet, die die Zwei-Staaten-Lösung durch immer neue Siedlungsprojekte untergraben haben.

Unter Netanjahu wurde das Verhältnis zu den Palästinenser*innen auf ein „Konfliktmanagement“ reduziert, hinter dem der Wunsch nach einer fortgesetzten Spaltung der Palästinenser*innen stand. Nach dem 7. Oktober wurden in Israel, aber auch in Deutschland Stimmen laut, die den Überfall der Hamas auch auf Netanjahus verfehlte Hamas-Politik zurückführten. Wie weit Netanjahus „päppeln“ der Hamas reicht, ist umstritten. Klar ist, dass er Israel als Regierungschef für einen Großteil jener Zeit führte, seit der „Bruderkampf“ zwischen Hamas und Fatah in Gaza 2006/07 zu einer politischen Spaltung der palästinensischen Gebiete führte. Mit der Herrschaft der militanten Hamas in Gaza und der gemäßigteren PLO in der Westbank entstand eine Konstellation, die viele Beobachter in Europa und den USA zunächst hoffen ließ, Israel und die gemäßigtere PLO würden eine konstruktive Verbindung finden, Schritte hin zur palästinensischen Staatlichkeit gehen und damit den Terror der Hamas als Holzweg entlarven.

Das hat sich aus verschiedenen – auch auf Seite der Fatah und der PLO liegenden – Gründen nie so entwickelt. Der seit 2009 nahezu ununterbrochen regierende Netanjahu war zunehmend daran, die Spaltung der Palästinenser*innen zu konservieren, anstatt den gemäßigteren Teil in Richtung Staatlichkeit zu unterstützen. Dass mit Netanjahu und den Rechtsextremisten auch künftig keine Zwei-Staaten-Lösung zu machen ist, belegen die jüngsten Beschlüssefür neue Siedlungen im Westjordanland, die laut des zuständigen Ministers Smotrich Schritte zur „Beerdigung der Idee eines palästinensischen Staates“ sind.

Die Verantwortung der arabischen Staaten

Seit dem Ausbruch des Kriegs verweigern etwa Ägypten oder Jordanien die Aufnahme von palästinensischen Flüchtlingen. Man stelle sich einmal vor, sämtliche Nachbarstaaten Syriens oder der Ukraine könnten ihre Grenzen dicht und alle Kriegsflüchtlinge zwangsweise zu Binnenflüchtlingen im Kriegsgebiet machen. Genau das ist die Lage im Gazastreifen, die die arabischen Staaten mit ihrem Handeln erzeugen. Die rund 100.000 Palästinenser*innen, die es in den ersten Wochen des Kriegs noch über die ägyptische Grenze schafften, sind dort ohne jede Perspektive.

Daran hat sich bislang nichts geändert und doch haben die arabischen Staaten den bisher einzigen Hoffnungsschimmer im Kalenderjahr 2025 gesendet. Sie überraschten mit der Unterstützung der New Yorker Erklärung, die das Ende der Hamas-Herrschaft in Gaza und eine Übergabe des Gebiets an die PLO fordert. Dies ist ein weiteres positives Zeichen, nachdem diese Staaten im Frühjahr ihre Bereitschaft zeigten, einen Wiederaufbauplan für Gaza finanziell zu unterstützen.

Eine Überführung des Kriegs in einen politischen Prozess für eine Nachkriegsordnung in Gaza ist nur denkbar, wenn die arabischen Regime darin eine aktive und gestaltende Rolle spielen. Sie hierbei in die Verantwortung zu nehmen, ist ein zentrales Motiv, warum eine Besetzung des Gazastreifens durch Israels Militär verhindert werden muss.

Deutschlands Haltung

Das Handeln sowohl der alten als auch der neuen Bundesregierung steht international in der Kritik. Andere europäische Regierungen diskutieren diverse Maßnahmen, um auf die Netanjahu-Regierung einzuwirken. Die Ziele sind in erster Linie die Verbesserung der humanitären Versorgung der Menschen in Gaza, eine Reduzierung der israelischen Militäroperationen und die Freilassung der Geiseln, die die Hamas noch immer in ihrer Gewalt hält. In allen Fällen ist von Bedeutung, dass Deutschlands Verhältnis zum Staat Israel bedingt durch den Holocaust ein anderes ist und bleiben wird als die Beziehungen zwischen Israel und bspw. Kanada, Spanien oder Japan.

Für Deutschland gab es in einigen Fällen gute Gründe, sich den Initiativen anderer Staaten zu verweigern: Eine von Großbritannien initiierte Erklärung – die eine Freilassung der Geiseln und einen Waffenstillstand forderte sowie die Ablehnung einer israelischen Besetzung des Gazastreifens zum Ausdruck brachte – unterstützte die amtierende Bundesregierung nicht. Zu Recht, denn diese Erklärung verlor kein Wort über die notwendige Entwaffnung der Hamas und das Ende der Hamas-Herrschaft in Gaza.

Ebenfalls schloss sich die Bundesregierung nicht einer Reihe anderer europäischer Regierungen an, die die Anerkennung eines palästinensischen Staates angekündigt oder vollzogen haben. In der Tat ist es fraglich, welchen Sinn die Anerkennung eines (noch) nichtexistierenden Staates hat, dessen Konturen bestenfalls schemenhaft zu erkennen sind. Als Zeichen gegen eine mögliche israelische Besetzung ist dieser Schrittunangemessen, weil er den de facto Machthabern in Gaza, also der Hamas, eine politische Rolle gibt, die ihr nach ihrem Angriff, der am Anfang des laufenden Kriegs stand, nicht mehr zustehen darf. Vorausgehende Staatsanerkennungen kennt die internationale Gemeinschaft auch im Kontext anderer gewaltsamer Konflikte nicht.

Bei anderen Maßnahmen, die auf europäischer Ebene diskutiert werden, sollte sich die Bundesregierung jedoch offener zeigen: So verweigert sie sich noch immer personenbezogenen Sanktionen (z.B. gegen die Minister Ben-Gvir und Smotrich). Fanatiker wie Ben-Gvir und Smotrich lassen sich davon nicht beeindrucken, aber dieser Schritt wäre geeignet, ein politisches Zeichen nach Israel zu senden. Durch die Sanktionen der Rechtsextremen könnte der israelischen Öffentlichkeit deutlich vermittelt werden, dass Israels internationaler Rückhalt, auch von deutscher Seite, zur Voraussetzung hat, dass seine Regierungen nicht einer Entmenschlichung der Palästinenser*innen das Wort reden und auch keine Politik der Vertreibung in Gaza verfolgen.

Ebenfalls lehnt die Bundesregierung bisher eine vorübergehende Aussetzung der Verhandlungen zum EU-Assoziierungsabkommen ab. Eine Aussetzung der Verhandlungen wäre ein verschärfender Schritt, da er Israels Regierung als ganze träfe. Jedoch würde zugleich die Perspektive für eine Fortsetzung der Verhandlungen unter veränderten politischen Konstellationen aufgezeigt, also ein Moment der politischen Rehabilitierung für eine künftige israelische Regierung schaffen.

Im Kern geht es für Deutschland darum, einerseits die Einsicht praktisch werden zu lassen, dass die extremistisch getriebene Regierung Netanjahus ein anderes politisches Gegenüber ist als sämtliche vergangene Kabinette Israels, und andererseits dennoch weiterhin den aus unserer Geschichte abzuleitenden Grundsatz („Staatsräson“) zu wahren, die dauerhafte Sicherheit Israels und seiner Bürger*innen zu gewährleisten.

Dieses Dilemma lässt sich auflösen, da die Haltung der deutschen Regierung sich zusätzlich zur historischen Verantwortung aus einer Orientierung an den im Grundgesetz verankerten liberalen Werten ableiten muss. In anderen Worten: Die deutsche Verantwortung für Israels Sicherheit kann in Spannung zum Handeln einer israelischen Regierung geraten, deren Politik extremistischen Absichten folgt. In dieser Konstellation muss Deutschland im Sinne liberaler Werte handeln. Zur Klarheit: Es geht nicht darum, in irgendeinem Sinn „deutsche Werte gegen Israel“ in Stellung zu bringen, sondern eine liberale Wertebasis, die die große Mehrheit der deutschen Gesellschaft mit dem Großteil der israelischen Gesellschaft teilt, als Grundlage für kritische Interventionen der Bundesregierung gegen eine radikalisierte Regierung in Jerusalem heranzuziehen.

Welche Interessen hat Deutschland in diesem Konflikt?

Deutschland ist vor dem Hintergrund seiner Geschichte und als Partner Israels an der dauerhaften Sicherheit der israelischen Bevölkerung und das heißt der Sicherung der Existenz des israelischen Staats interessiert. Die Fortsetzung der Hamas-Herrschaft in Gaza ist damit unvereinbar. Deutschland sollte alle Anstrengungen unterstützen und vorantreiben, eine von den arabischen Staaten und der PLO getragene Nachkriegsordnung in Gaza zu realisieren. Deutschland sollte keinerlei Erklärungen oder Abkommen zur Zukunft Gazas mittragen, die der Hamas eine Rolle einräumen oder diese Frage auch nur offenlässt.

Aus denselben Gründen kann Deutschland auch nicht untätig bleiben, wenn die Regierung Netanjahu ihr eigenes Land mit der Fortsetzung des Kriegs in Gaza in eine dauerhafte internationale Isolation treibt und das gegen den immer wieder erklärten Willen der Geisel-Angehörigen, großer Teile der Zivilgesellschaft und mittlerweile auch der Armee. Die fortgesetzte Kombination aus beidem – äußere Isolation und innere Krise – ist für Israel von existenzieller Gefahr. Deutschland sollte im Interesse der langfristigen Sicherheit Israels der von den Extremisten getriebenen Regierung Grenzen aufzeigen.

Überdies muss Deutschland im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht aktiv dazu beitragen, die Notlage der Menschen im Gazastreifen schnellstmöglich zu lindern. Kollektivbestrafung qua Blockade bis an den Rand einer Hungersnot ist nichts, was eine deutsche Regierung, die der Menschenwürde verpflichtet ist, sehenden Auges geschehen lassen kann. Auch wenn die mit Jordanien organisierte Luftbrücke in ihren praktischen Konsequenzen nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist: Der Ansatz, mit Partner*innen in der Region die Versorgungslage der Menschen im Gazastreifen zügig zu verbessern, ist richtig. Die israelische Regierung dazu aufzufordern, dies zuzulassen, ist ebenfalls richtig.

Angesichts der umfassenden militärischen Erfolge Israels und der humanitär inakzeptablen Lage in Gaza sollte die Bundesregierung mit ihren Partner*innen auf ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen drängen.

Waffenlieferungen im Angesicht einer Besetzung Gazas?

Netanjahus Regierung verkündete nun die Absicht, Gaza-Stadt zu besetzen. Wieder hatten tagelang die Rechtsextremisten in Reaktion auf die New Yorker Erklärung genau das gefordert. Warnungen des israelischen Militärs schlug die israelische Regierung weitestgehend in den Wind. Kanzler Merz verkündete daraufhin, dass Deutschland keine Exporte von Waffen genehmigen werde, die in Gaza zum Einsatz kommen könnten. Wichtig daran ist, dass mit dieser Formulierung der Export von Technik, die der Verteidigung, z.B. Luftabwehr, dient, weiterhin möglich bleibt. Deutsche Waffenexporte an Israel hatten immer den Sinn, Israels Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit gegen umfassende äußere Bedrohungen zu stärken. Das gilt auch für Waffenlieferungen in der Zeit nach dem 7. Oktober.

Merz hat mit Blick auf die Not in Gaza und die angekündigte Besetzung von Gaza-Stadt eine Wende in der deutschen Position vollzogen, die grundsätzlich notwendig war. Zugleich ist die Art und Weise, wie die Bundesregierung vorgeht, politisch problematisch und konterkariert zum Teil ihre Ziele.

Zunächst ist es ein Fehler, lange Zeit gar keine Schritte gegen Netanjahus Regierung gegangen zu sein und nun direkt zum symbolisch weitreichendsten Mittel zu greifen, das der Bundesregierung zur Verfügung steht. Dahinter mag die sehr plausible Vermutung stecken, dass im Gegensatz zu anderen Signalen – wie der Anerkennung eines palästinensischen Staates, Sanktionen gegen einzelne Regierungsmitglieder oder der Aussetzung der Verhandlungen zum EU-Assoziierungsabkommen – die Einschränkung von Waffenlieferungen eine harte Währung ist, in der diese israelische Regierung noch adressierbar ist. Schließlich ist damit die Frage ihrer Sicherheit unmittelbar berührt.

Jedoch lässt diese Maßnahme keine politische Differenzierung mit Blick auf die Diskussion in Israel erkennen: Wer der Politik Ben-Gvirs und Smotrichs Einhalt gebieten will, sollte nicht unvermittelt Schritte gehen, die pauschal ganz Israel – also auch die Opposition und die Zivilgesellschaft einschließlich der Geisel-Angehörigen – in der existenziellen Frage der Sicherheit betreffen.

Zudem war diese Entscheidung in den eigenen Reihen politisch schlecht vorbereitet. Entschiedenes Handeln ist mit Blick auf die von Netanjahu forcierte Besetzung Gazas geboten, aber durch die Abruptheit ist ein politischer Aufruhr innerhalb von CDU/CSU entstanden, der die Bundesregierung gegenüber Netanjahu gerade nicht stärkt und politischen Druck entfaltet. Dessen Regierung bewertet die Entscheidung von Merz als vorübergehendes Einknicken, das bald wieder korrigiert werden wird.

Und in der Tat bleibt der Kurs der Bundesregierung unklar. Wenige Tage nach Merz‘ Entscheidung legten die Außenminister*innen von 32 Staaten einen neuen Appell vor, die Grenzübergänge nach Gaza für umfassende humanitäre Lieferungen zu öffnen. Die Unterschrift des deutschen Außenministers Wadephul (CDU) fehlte erneut.