Grüne fordern sofortige Krisenintervention und Untersuchungsausschuss

Grüne fordern sofortige Krisenintervention und Untersuchungsausschuss

Der Fall des toten Kevin verdeutlicht das komplette Versagen des Jugendamtes. Die wichtigste Aufgabe, den direkten Kontakt mit dem Kind zu halten und sich ständig vor Ort zu überzeugen, dass es ihm gut geht, diese Aufgabe hat die Behörde sträflich vernachlässigt. Mit grauenhaften Folgen. "Das Bremer Hilfesystem verdient seinen Namen nicht. Es hat sich mehr mit sich selbst, als mit seinem Schutzbefohlenen beschäftigt. Darüber bin ich fassungslos. Kevins Tod ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt zahlreiche Hinweise, dass Bremer Kindern in Not nicht oder nicht angemessen geholfen wird. Deshalb fordert die grüne Fraktion eine sofortige Krisenintervention: Alle aktuellen Fälle von Kindern und Jugendlichen, die das Jugendamt betreut, müssen überprüft werden. Wie oft gibt es direkten Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen? Ist eine engmaschige Betreuung sichergestellt? Gab es strittige Entscheidung über die Betreuungsform im Einzelfall? Wenn ja muss überprüft werden, ob die Entscheidung fachlich vertretbar ist – unabhängig von finanziellen Überlegungen," erklärt die grüne Fraktionsvorsitzende Karoline Linnert auf der heutigen Pressekonferenz.

Jens Crueger, kinder- und jugendpolitischer Sprecher der Fraktion, bezeichnet den Rücktritt der Sozialsenatorin als konsequent und unausweichlich: " Die Frage der Verantwortung hat sich damit aber nicht erledigt. Als nächsten Schritt fordern wir die Suspendierung des Leiters des Jugendamtes, Dr. Jürgen Hartwig. Er hat mit dafür gesorgt, dass nicht allein nach fachlichen Gesichtspunkten entschieden wird, ob ein Kind in eine Pflegefamilie oder ein Heim kommt. Ein unerhörter Spardruck wird auf die Mitarbeiter ausgeübt – das Budget soll um keinen Preis überschritten werden! Das Kindeswohl ist nicht mehr allein ausschlaggebend – diese bittere Bremer Praxis ist gesetzwidrig und muss sofort beendet werden. Kindern in Not muss geholfen werden – die von der großen Koalition bewusst vorgenommene und vielfach kritisierte willkürliche Kostendeckelung muss sofort aufgehoben werden. Sie ist durch keine noch so große Haushaltsnotlage zu rechtfertigen."

Budgetierung – der Fluch der bösen Tat

Seit langem streiten sich die Grünen in der Sozialdeputation und im Jugendhilfeausschuss mit der Ressortspitze über die starre Budgetierung. Zuletzt hat die grüne Fraktion bei den Hauhaltsberatungen für 2006/2007 kritisiert, dass die für "Betreuung und Unterbringung außerhalb der Familie" angesetzte Summe viel zu niedrig veranschlagt wurde (vgl. Anhang 1, Vorlage des Berichterstatters Herderhorst für den Haushalts- und Finanzausschuss). Jens Crueger betont: "Unsere Bedenken und Proteste wurden stets abgeblockt. Die Budgetierung sei nicht verbindlich, es handele sich nur um Zielzahlen. Eine glatte Lüge. Wie strikt die Kostendeckelung gehandhabt wird, belegt eine Anmerkung aus einer Vorlage für die Sozialdeputation vom 7. September 2006 zur Entwicklung der Sozialleistungen (vgl. Anhang 2). Dort heißt es ausdrücklich:

 "Die Steuerungsvorgabe sieht weiter vor, dass die Fallzahl im Bereich Vollzeitpflege den Wert übersteigen darf, sofern im Bereich Heim eine entsprechende Absenkung erfolgt. Die Gesamtzahl der Fremdplatzierungen darf somit nicht gesteigert werden."

Eine zynische Vorgabe – unabhängig von fachlichen Entscheidungen wird von der Ressortspitze ein Limit gesetzt – mit fatalen Folgen für die Kinder und Jugendlichen, die dringend aus unzumutbaren Verhältnissen herausgeholt werden müssten."

Auch die Landesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege hat auf  negative Veränderungen bei der Bremer Praxis der so genannten Inobhutnahme hingewiesen und in einem offenen Brief vom 8. Mai 2006 protestiert (vgl. Anhang 3). Darin heißt es:

 "Ambulant vor stationär ist gesetzlich geregelt. Diese Vorgabe wurde auch in der Vergangenheit bereits umgesetzt. Die jetzt vorgenommene Neujustierung findet unter rein fiskalischen Gesichtspunkten statt."

Die Landesarbeitsgemeinschaft weist auch auf eine unverantwortliche Dienstanweisung für Behördenmitarbeiter hin, in der Einweisungen in Wohneinrichtungen für Jugendliche strikt untersagt werden. Jens Crueger weiß von einer anderen Dienstanweisung, in der festgelegt wurde, dass es bis zum Jahresende zu keiner weiteren Heimaufnahme kommen dürfe. Damit nicht genug, bis zum Jahresende sollten fünf Jugendliche entlassen werden: "Die Einzelschicksale spielen bei solchen Vorgaben keine Rolle – die Statistik regiert – ungeheuerlich! Kein Wunder, dass sich unter den Fachleuten Resignation breit gemacht hat. Im vertraulichen Gespräch äußerte der Mitarbeiter einer Wohlfahrtsorganisation verzweifelt die Vermutung, es müsse wohl erst einen Toten geben, damit sich etwas ändere."

Unrealistische Sparvorgaben revidieren

Karoline Linnert warnt vor Überreaktionen nach dem tragischen Todesfall. "Es gibt keine Patentlösung. Es geht immer um eine Einzelfallentscheidung. Wir wollen nicht, dass Kinder übereilt aus Familien herausgerissen werden. Heime sind nicht per se bei Problemen die bessere Lösung. Vieles spricht für den Grundsatz ambulant vor stationär. Vorausgesetzt, die Mittel für eine engmaschige Familienhilfe und –betreuung sind vorhanden. Davon ist Bremen aber weit entfernt. Gerade erst wurde der Fachdienst "Aufsuchende Familienberatung" aufgelöst. Die erfahrenen Fachkräfte, die bisher vor Ort im Einsatz waren, sind jetzt innerhalb der Behörde eingesetzt. Die fatale Politik der großen Koalition, bei ambulanten und stationären Angeboten gleichzeitig die Sparschraube anzuziehen, ist unverantwortlich. Der breite Protest der Fachleute verhallte bisher ohne Resonanz – der Senat steht in der Verantwortung, die völlig unrealistischen Sparvorgaben für den Sozialbereich zu revidieren."

Unterlagen zum "Fall Kevin"

  • Auszug aus dem Bericht über die Haushalte der Bereiche und Ressorts zu den Beratungen der Haushalte 2006/2007 in den Haushalts- und Finanzausschüssen
  •  "Entwicklung der Sozialleistungen im Haushalt 2006 – Stand 30. Juni 2006" - Vorlage für die Sitzung der Sozialdeputation am 7. September 2006
  • Offener Brief der Landesarbeitsgemeinschaften der Freien Wohlfahrtspflege Bremen vom 8. Mai 2006