Verantwortung übernehmen und Menschenrechte in Afrîn verteidigen

Flucht by cloverphoto iStock

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Völkerrechtswidriger Einmarsch der Türkei in Syrien

Mit dem Start der „Operation Olivenzweig“ hat die türkische Regierung am 21. Januar 2018 ihr eigenes Territorium übertreten und das Nachbarland Syrien völkerrechtswidrig angegriffen. Noch schwerer wiegt, dass die Türkei seither in der Region Afrîn einen Krieg gegen die dort ansässige kurdische Bevölkerung führt. Lautet die offizielle Version von Präsident Erdogan zur Operation Olivenzweig Terrorismusbekämpfung, mehren sich die Berichte über Menschenrechtsverletzungen an der kurdischen Zivilbevölkerung.

Die Situation der Kurden in Afrîn

Die Region um Afrîn gehört zur historisch-kurdischen Region Kurd Dagh / Ciyayê Kurmênc (Berg der Kurden) und ist eine der homogensten von Kurden besiedelten Regionen auf syrischem Territorium überhaupt. Neben Kurden leben traditionell auch Tscherkessen, Armenier, Jesiden, Aleviten, Aramäer, Turkmenen und einige wenige Araber. Im Verlaufe des Syrischen-Bürgerkrieges wurde die Region Zufluchtsort für hunderttausende, zumeist arabisch stämmige, Binnenflüchtlinge, insbesondere aus den Regionen Aleppo und Idlib. Das Schicksal dieser syrischen Binnenflüchtlinge zeigt die dramatische Situation der Zivil-bevölkerung in Afrin sehr deutlich: flohen diese zunächst vor dem Kampf zwischen dem Assad-Regime und der FSA nach Afrîn, sind sie nun wieder auf der Flucht, diesmal vor dem türkischen Militär und islamistischen Gruppierungen, die die undurchsichtige Situation vor Ort für sich nutzen. Die Zerstörung von Krankenhäusern, Schulen, Wasserwerken, Staudämmen trifft vor allem die Zivilbevölkerung und hat bisher ca. 200.000 Kurdinnen und Kurden zur Flucht gezwungen. Insbesondere die Situation der kurdischen Jesiden, die bereits 2014 vom IS im Shengal-Gebirge verfolgt und versklavt wurden ist alarmierend. Sie sind einmal mehr mit Islamisten konfrontiert, die schon einmal tausende Frauen und Mädchen versklavt hielten. Die Situation der fast 200.00 Afrîn-Flüchtlinge, die sich nun in einem kleinen Bezirk nördlich von Aleppo um die Stadt Tell Refaat (momentan von YPG und dem Assad-Regime kontrolliert) herum befinden ist Medienberichte zu Folge katastrophal.

Internationales Versagen

Seit Jahren ist Syrien Spielball verschiedener internationaler Akteure ohne Assad zu entmachten und die Region zu befrieden. Aktuell intervenieren in der Region die Türkei, USA, Russland, Frankreich und Großbritannien. Nicht nur das Nato-Mitglied Türkei ist verant-wortlich für die dramatische Situation Afrîns, ohne die Diktatur Assads und die Intervention seins Hauptverbündeten Russland in der Region wäre das Vorgehen der Türkei nicht möglich gewesen.  Derweil herrscht bedenkliche Ruhe zu den Vorgängen in der syrisch-türkischen Grenzregion. Internationale Organisationen wie UNO oder EU halten sich auffallend zurückhaltend. Auch die Verurteilung des Angriffs durch die Bundeskanzlerin kam spät und blieb ohne sichtbare Konsequenzen für den NATO- und Wirtschaftspartner Türkei. Der türkische Einmarsch verdeutlicht das Scheitern der Türkeipolitik Deutschlands und der Europäischen Union. Viel zu lange wurde kaum oder viel zu leise Kritik an der zunehmend autokratischen und unberechenbaren Innen- und Außenpolitik der türkischen Regierung geübt. Mit dem Flüchtlingsdeal hat sich die EU durch Erdogan erpressbar gemacht. Präsident Erdogan fühlt sich offensichtlich immun genug, um sich eine ganze Reihe innen- und außenpolitischer Eskalationen zu erlauben. Kritik aus Berlin und Brüssel muss er da-bei nicht befürchten. In der Türkei selbst ist Kritik an der Regierung seit langem nicht mehr ohne spürbare Folgen möglich. Aufrufe zum Frieden sind Grund genug, staatlicher Re-pression ausgesetzt zu werden. Davon sind alle Bevölkerungsschichten, darunter Lehrende, Studierende, Professoren usw. betroffen. Das Nato-Bündnis muss sich angesichts des militärischen Agierens der Türkei in Afrin mit der Sache befassen und auf einen Rückzug drängen. Durch die geplanten Belagerungen drohen Kriegsverbrechen.

Was jetzt nötig ist

Um weitere Eskalationen zu vermeiden, muss die türkische Regierung mit Konsequenzen konfrontiert werden. Kurzfristig muss erreicht werden, dass die Türkei Zugang für humanitäre Hilfeleistungen gewährt. Darüber hinaus ist dringend notwendig:

  1. Deutschland und die anderen Staaten der EU sind aufgefordert, sich konsequent gegen eine weitere Gewalteskalation und für Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte sowie Ahndung und Aufarbeitung von Völkerstraftaten in der Region einzusetzen.
  2. Die Bundesregierung muss sich für einen sofortigen Stopp des türkischen Angriffs und der Belagerung in Nordsyrien einsetzen.
  3. Das politische Handeln gegenüber der Türkei muss konsequent auf die Unterstüt-zung der verbleibenden demokratischen Kräfte in der Türkei ausgerichtet werden.
  4. Alle deutschen Rüstungsexporte in die Türkei müssen umgehend gestoppt werden, bis die Türkei zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückkehrt. Das gilt auch für die von der türkischen Regierung geforderte Aufrüstung der Leopard-2-Panzer, die offenkundig in der gegenwärtigen türkischen Militäroffensive eingesetzt werden.
  5. Ebenso muss das Vorhaben zur Beteiligung deutscher Unternehmen an Rüstungskonsortien, wie sie jüngst im Fall des Rheinmetallvorhabens zur Unterstützung des Aufbaus einer Panzerfabrik in der Türkei öffentlich wurden, beendet werden. Die Gesetzeslücke, die solche Pläne ermöglicht, muss dringend geschlossen werden.
  6. Die Bundesregierung muss sich für eine diplomatische Offensive gegenüber der Türkei und Vertreterinnen und Vertretern der kurdischen Bevölkerung in der Region, einsetzen und Druck für eine politische Regelung der Kurdenproblematik aufbauen.
  7. Der Flüchtlings-Deal mit der Türkei muss beendet werden, ohne dabei die Unterstützung der Europäischen Union für die über drei Millionen Flüchtlinge in der Türkei abzubrechen. Deren Versorgung nach humanitären Standards muss oberste Priorität haben. Auch braucht es dringend Kontingente zur Entlastung der dortigen Strukturen.
  8. Verhandlungen über eine Ausweitung der Zollunion kann es erst geben, wenn die Türkei eine Kehrtwende zurück zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vollzieht. Das gilt auch für die Fortführung der Beitrittsgespräche, die de facto bereits auf Eis liegen.
  9. Europäische Heranführungshilfen sollten ausschließlich an zivilgesellschaftliche, pro-demokratische Organisationen ausgezahlt werden. Die Beitrittsgespräche jetzt aber komplett abzubrechen, würde das falsche Signal an die pro-europäischen und demokratischen Kräfte in der Türkei senden. Für eine demokratische und weltoffene Türkei müssen die Türen zur EU offen bleiben.


Bremen, 7. Mai 2018