Rede zum Migrantenwahlrecht

Rede zum Migrantenwahlrecht

Die "ausländische" Bevölkerung ist ein fester Bestandteil der Gesamt-Wohnbevölkerung Deutschlands. Sie ist ein ebenso fester Bestandteil der Wirtschaft des Landes. Dies wird in vielen Politikbereichen, insbesondere in der Wirtschaftspolitik bereits seit langem stillschweigend vorausgesetzt. Die "Ausländer" sind ein wirtschaftlicher Faktor, mit dem die deutsche Politik selbstverständlich rechnet. Außerdem sind viele formal noch Ausländer, aber nach ihrem Verhalten innerhalb der Gesellschaft längst Inländer. Dies ist im sozialen Bereich so, in den Vereinen und Verbänden, im Sport, und auch in der Kultur. In der öffentlichen Debatte werden immer nur die Probleme hervorgehoben, nicht aber die große Gruppe derer, die sich schon seit vielen Jahren ohne Probleme einfügen.

Dem gegenüber ist es ein merkwürdiges Phänomen, dass das öffentliche Leben in Deutschland immer noch von einer vergleichsweise geringen Präsenz der Migranten geprägt ist. Der farbige Moderator oder die Lehrerin mit Kopftuch sind für die deutsche Kultur offenbar immer noch eine Provokation. Man nimmt solche Erscheinungen, die längst Alltagsphänomene sein sollten, immer noch mit einem Hochziehen der Augenbrauen oder gar mit Erstaunen, schlimmstenfalls mit völliger Abwehr auf. Dies bedeutet, dass die Identifikation mit einer kulturell pluralen Gesellschaft unterentwickelt ist und sich ohne Hilfe auch nicht oder nur äußerst langsam entwickeln wird. Es bedeutet weiterhin, dass allgemein gesprochen die kulturelle Grundlage für politische Teilhabe fehlt.

Den Migranten und darunter den Ausländern wird mit einer Art von karitativer Grundeinstellung gegenüber getreten. Sie sind Opfer, Ausgegrenzte, Benachteiligte, arme Geschöpfe, die nicht mal die Sprache richtig können. (Können sie überhaupt eine?). Entsprechend traut man ihnen nicht zu, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, ohne Betreuung in dieser Gesellschaft zu funktionieren, eigenverantwortlich zu handeln. Diese Sichtweise steht im Gegensatz zu dem weithin selbstständigen Handeln und Beitragen der Migranten innerhalb und zu dieser Gesellschaft. Sie hat aber auch zur Folge, dass die Migranten nicht ermutigt werden, für Selbstvertretung zu sorgen, aktiv für ihre Partizipation in den verschiedenen Bereichen einzutreten.

In den Medien und zunehmend auch im Alltagsdiskurs macht sich sogar ein Ausschlag des Pendels ins Negative bemerkbar. Lange Zeit galt es nicht als "schick" und schon gar nicht politisch korrekt, negativ über Migranten und Ausländer zu sprechen oder zu schreiben. Dies beginnt sich zu ändern. Insbesondere Massenmedien verfallen in regelrechte Negativkampagnen gegen Migranten. Die derzeitige Kampagne des Springerkonzerns gegen Cem Özdemir (siehe Bild-Zeitung von 24. 11.) ist ein krasses Beispiel.

Deutschland muss also erkennen, dass es unerlässlich ist, die Identifikation mit dem demokratischen Gemeinwesen, die von den Migranten gefordert wird, mit "Gegenliebe" zu beantworten. Wie viele Sätze beginnen mit: "Ich habe ja nichts gegen Ausländer, aber…." Was folgt, ist meist ein Plädoyer für Ausgrenzung. Wenn man Identifikation mit dem Gemeinwesen fordert, muss man auch die Elemente dieser Identifikation zulassen. Zu diesen Elementen gehört, neben vielen anderen, auch das Wahlrecht. 

Das heißt konkret: Von den Menschen, die in der Demokratie leben wollen, kann erwartet werden, dass sie sich zu dieser Demokratie bekennen. Umgekehrt können die Menschen dann erwarten, dass sie als gleichberechtigte Bürger dieser Demokratie behandelt werden. Dass sie von den wichtigen demokratischen Rechten nicht ausgeschlossen werden. Gleichberechtigt kann aber in der Demokratie niemand sein, der nicht auch das Wahlrecht ausüben darf.

In anderen Ländern hat man das seit langem verstanden. Nehmen wir das Beispiel Israel. Schon vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, und noch mehr danach, sind viele Menschen aus Russland und anderen Ländern der ex-UdSSR nach Israel ausgewandert. Sie leben dort in der Mitte der Gesellschaft. Sie beteiligen sich aktiv am öffentlichen Leben, partizipieren in der Wirtschaft, in der Politik, im Sozialleben. Selbstverständlich üben sie auch das Wahlrecht aus. Natürlich ist Israel ein Sonderfall, da es jedem Juden, gleich aus welchem Land er kommt, automatisch das Einwanderungsrecht zubilligt. Das ist Teil der israelischen Verfassung. Wir können aber trotzdem daraus lernen. Diese Menschen kommen aus einem völlig anderen Hintergrund als der Aufnahmegesellschaft. Und trotzdem bricht da nichts zusammen, im Gegenteil, die Ankömmlinge leisten einen hervorragenden Beitrag zum weiteren Aufbau des Staates und der Gesellschaft. Hier in Deutschland hat man immer das Gefühl, als fürchtete man den totalen Zusammenbruch aller Strukturen, wenn man den Migranten irgendwelche Rechte zugesteht. Insbesondere den Ausländern unter ihnen werden Arbeitsmöglichkeiten verweigert, sie sind häufig von Sozialhilfe oder anderer Unterstützung abhängig, sie leben nicht in der Mitte der Gesellschaft, sondern werden an den Rand gedrängt.

Das Wahlrecht ist sozusagen die Spitze des Eisberges. Es ist fast ein Symbol für die bittere Wahrheit: wir sind nicht gewollt. Wir sind nur geduldet. Wir haben nichts zu sagen. Wir dürfen nicht mitreden. Denn wenn Menschen dort, wo sie leben, nicht mit entscheiden dürfen, wer das Gemeinwesen regiert, dann ist das die grundsätzlichste Ausgrenzung, die denkbar ist. Sie fallen nicht ins Gewicht. Ihre Stimme muss nicht gehört werden. Ihre Meinung ist irrelevant für das Gemeinwohl.

In Deutschland leben heute rund 8 Millionen Ausländer, also Migranten, die keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Ein Teil von ihnen darf bereits wählen: Unionsbürger nehmen an den Kommunalwahlen und selbstverständlich an den Europawahlen teil. Dem größten Teil der Ausländer aber wird das Wahlrecht verwehrt. Sie werden politisch nicht ernst genommen. Denn Nur wer wählen kann, wird auch politisch ernst genommen. Wer nicht wählen kann, bleibt hingegen lediglich Objekt des politischen Handelns.

In der politischen Bildung der Bundesrepublik Deutschland ist der "mündige Bürger" ein Kernbegriff. Der "mündige Bürger" soll verantwortlich handeln, er soll Verantwortung für das Gemeinwesen übernehmen, seine Rechte und Pflichten kennen und für seine Interessen eintreten. Er soll Subjekt des politischen Handelns sein, nicht nur Objekt. Eine zentrale Voraussetzung für das Eintreten für die eigenen Interessen ist das Wahlrecht. Wird es verwehrt, ist es illusorisch, vom "mündigen Bürger" zu sprechen.

Migranten und auch Ausländer, die in Deutschland leben und wirtschaftlich tätig sind, müssen selbstverständlich auch Steuern zahlen. Als Einwohner zahlen sie Gebühren und Abgaben, Anliegerkosten, als Hausbesitzer zahlen sie Grundsteuer und, z.B. in Bremen, Deichgebühren und vieles mehr. In dieser Hinsicht werden sie behandelt, wie alle anderen Bürger. Warum nicht auch in Bezug auf das Wahlrecht?

Die europäischen Demokratien und die USA sind unter anderem dadurch entstanden, weil in ihrer historischen Ursprungszeit die Einwohner nicht mehr damit einverstanden waren, für Kriege und andere teure Extravaganzen ihrer Herrschenden aufzukommen, ohne mitbestimmen zu dürfen. Schon im 13. Jahrhundert verlangten Abgeordnete des englischen Model Parliament das Recht, bei der Erhebung von Steuern gefragt zu werden. "No taxation without representation" (Keine Besteuerung ohne Vertretung im Parlament) war einer der Kernsätze der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Heute sollten wir soweit sein, allen Einwohnern unabhängig von ihrem Status ein gewisses Mitbestimmungsrecht in Gestalt des Wahlrechtes einzuräumen, zumindest im kommunalen Bereich, wenn nicht auf nationaler Ebene.

Nicht nur das Eintreten für die eigenen Interessen setzt das Wahlrecht voraus, sondern auch das Mitgestalten im Interesse der Gesamtheit. Die deutsche Integrationspolitik basiert zum Teil auf dem Bekenntnis, dass die Gesellschaft die Ausländer braucht, und zwar nicht nur zum Kinderkriegen, sondern auch zum Einbringen ihrer Fähigkeiten, ihrer Kreativität, ihrer vielfältigen Potenziale für die Entwicklung und das Funktionieren der Wirtschaft. Auch dieses Mitgestalten verlangt letzten Endes das Recht zur politischen Mitbestimmung.

Es ist deshalb aus meiner Sicht auch unverständlich, warum beispielsweise im Nationalen Integrationsplan zentrale integrationspolitische Aspekte ausgeklammert werden. Auch ausländerrechtliche Fragen wie das Wahlrecht gehören in die Beratungen im Rahmen des Nationalen Integrationsplans hinein.

Das Wahlrecht ist ein zentraler Bestandteil der Identifikation des Bürgers und der Bürgerin mit dem Staat, in dem er oder sie leben, und mit seiner Grundordnung. Nur wer das Wahlrecht ausüben darf, fühlt sich als vollwertiger Bürger, als vollwertige Bürgerin angenommen, geschätzt, kann sich hier wirklich zuhause fühlen.

Aus all dem wird deutlich, dass das Wahlrecht nicht nur um des Prinzips willen zu befürworten ist, es ist auch nicht nur um seiner selbst willen zu befürworten. Sondern es ist darüber hinaus ein zentrales Anliegen jeder ernst gemeinten Integrationspolitik.