Rede bei der Gedenkstunde der Bürgerschaftsfraktionen zur Erinnerung an die Opfer der Reichspogromnacht
Rede bei der Gedenkstunde der Bürgerschaftsfraktionen zur Erinnerung an die Opfer der Reichspogromnacht
Meine Damen und Herren, verehrte Frau Anita Lasker-Wallfisch, sehr geehrter Herr Herbert Goldschmidt,
gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde gedenken die Fraktionen der Bremischen Bürgerschaft alljährlich der Opfer der Reichspogromnacht. Vielen Dank an Sie, verehrte Anwesende der jüdischen Gemeinde, dass Sie uns helfen, diese langjährige Tradition aufrecht zu erhalten. Mit dem Gedenken an die Reichspogromnacht erinnern wir an Martha Goldberg, an Dr. Adolph Goldberg, an Heinrich Rosenblum, an Leopold Sinasohn und an Selma Zwienicki. Sie wurden vor 70 Jahren in der Nacht vom 9. auf den 10. November von SA Männern erschossen. Weil sie Juden waren, nur deshalb. Wir erinnern an die jüdischen Männer, die in dieser Nacht in Konzentrationslager verschleppt wurden. Wir erinnern an das Leid aller jüdischen Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt, denen Gewalt und Unrecht angetan wurde. Weil sie Juden waren, nur deshalb. Und wir erinnern in Betroffenheit daran, dass fast niemand ihnen geholfen hat.
Brennende Synagogen in ganz Deutschland, zertrümmerte Schaufenster jüdischer Geschäfte, Misshandlungen, Vertreibungen, Transporte und systematische Ermordung jüdischer MitbürgerInnen. Das alles konnte man doch nicht übersehen!
Um der Erinnerung einen Namen zu geben, möchte ich darüber sprechen was die aus Bremen stammende Familie Goldschmidt erlitten hat.
Herbert Goldschmidt und Familienangehörige weilen heute unter uns. Ihre Anwesenheit ist eine besondere Ehre und ein Zeichen der Versöhnung. Sie haben die Mühe auf sich genommen und sind aus England, Südafrika und Kanada zu uns gekommen.
Herzlichen Dank!
Zur Erinnerung:
In Bremen während der Reichspogromnacht im Nov. 1938: Vier Familienangehörige von Herbert Goldschmidt retteten sich aus dem Gemeindehaus, dem Rosenak-Haus in die Wohnung von Herbert Goldschmidt's Mutter, Sophie Meyer: Sein Onkel, der Synagogendiener war, deren Ehefrau, sein Lieblings-Cousin und seine Großmutter.
Die Großmutter von Herbert Goldschmidt, Ida Salomon, nahm sich in der Wohnung seiner Mutter in Bremen am 15. 11. 1938 das Leben.
Kurz darauf entkam der Bremer Herbert Goldschmidt im Alter von 12 Jahren mit einem Kindertransport von Bremen nach England. Von England aus wanderte Herbert Goldschmidt nach einigen Wochen zu seinem Vater nach Südafrika aus. Die Mutter von Herbert Goldschmidt und eine Schwester, Inge Goldschmidt wurden am 18. 11. 1941 in das Ghetto Minsk deportiert und ermordet.
Nur 6 der im Nov. 1941 vom Bremer Hauptbahnhof nach Minsk deportierten 570 Juden überlebten. Vergangene Woche habe ich auf der Bremer Gedenkfahrt nach Minsk die Barbarei einer organisierten deutschen Mordmaschinerie wieder einmal deutlich wahrgenommen. Ein Teilnehmer der Gedenkreise sagte angesichts der Gräueltaten in Trostenez, dem Konzentrationslager in der Nähe von Minsk: "Man kann trotz allen Schreckens den Schrecken nicht mehr fassen."
Jede und jeder ist in der Verantwortung, dass so etwas nie wieder geschieht!
Das erfordert einige Anmerkungen zur heutigen Zeit:
Mit Entsetzen und tiefen Bedauern stellen wir fest, dass wir es in Deutschland – wie auch all die Jahre und Jahrzehnte davor – mit Neonazis, Rechtsextremismus und Antisemitismus zu tun haben. Laut Verfassungsschutzbericht 2007 leben in Bremen 265 Rechtsextremisten. Diese gesellschaftliche Wirklichkeit ändert sich nicht, wenn sie verschwiegen wird. Wir müssen dem mit allem rechtsstaatlichen, gesellschaftlichen und persönlichen Engagement entgegentreten. Das erfordert ständige Wachsamkeit und Zivilcourage.
Eine lebendige und vielfältige Erinnerungskultur ist eine entscheidende Voraussetzung, Neonazis offensiv entgegen zu treten.
Gerade das Engagement der Jugend ist ein zukunftsgerichtetes Zeichen für ein friedliches Zusammenleben in der einen Welt. Daher freut es mich besonders, dass die Schülerinnen und Schüler der St. Johannis Schule diese Gedenkstunde aktiv mit gestalten. Ihre Blumenniederlegung und Fürbitten geben Mut für die Zukunft. Danke!
In Bremen gibt es erfreulicherweise ein zunehmendes Engagement, die Erinnerung wach zu halten und antisemitischen Tendenzen unserer Gesellschaft entgegenzutreten. Beispielhaft nennen möchte ich an dieser Stelle nur die "Nacht der Jugend", das Projekt "Stolpersteine", die Aktion "rote Karte gegen Rechts" und den Einsatz Bremer BürgerInnen für den Erhalt der Erinnerungs- und Begegnungsstätte "Rosenak-Haus".
Besonders danken wir, die Abgeordneten der Bremischen Bürgerschaft, der heutigen Gastrednerin, Frau Anita Lasker-Wallfisch:
Anita Lasker-Wallfisch ist eine der letzten Überlebenden des Mädchenorchesters von Auschwitz. Sie wurde am 17. Juli 1925 in Breslau als eine von drei Töchtern des jüdischen Rechtsanwalts Alfons Lasker und dessen Ehefrau Edith, einer Geigerin, geboren. Während es den Eltern gelingt, die älteste Schwester Marianne 1939 nach England in Sicherheit zu bringen, müssen die jüngeren Schwestern Anita und Renate in Breslau bleiben. Im April 1942 werden die Eltern deportiert und ermordet. 1943 werden auch Anita und Renate Lasker nach Auschwitz deportiert. Als Cello-Spielerin wird Anita Lasker dem Lagerorchester zugeteilt. Ende Oktober 1944 werden Anita und Renate Lasker mit dem Viehwagen nach Bergen-Belsen transportiert und dort am 15. April 1945 von den Engländern befreit. Als sogenannte Displaced Persons müssen sie elf Monate warten, ehe sie 1946 nach Großbritannien auswandern können. Anita Lasker wird Mitbegründerin des English Chamber Orchestra und macht eine Weltkarriere als Cellistin. Sie heiratet, wird Mutter zweier Kinder. 1994 besucht sie erstmals seit der Emigration wieder Deutschland. Seither ist Anita Lasker-Wallfisch als Zeitzeugin des Holocaust häufig auf Vortragsreisen, vor allem in deutschen Schulen.
Vielen Dank, Frau Lasker-Wallfisch, dass Sie zu uns gekommen sind. Es ist uns eine besondere Ehre. Nach dem musikalischen Zwischenspiel haben Sie das Wort.