Rede
Erwartungen von MigrantInnen an Pro Familia
Erwartungen von MigrantInnen an Pro Familia
Es ist nur wenige Tage her, dass Bremen seinen ersten Integrationsgipfel veranstaltet hat. In den verschiedenen Workshops dieser Veranstaltung ging es um so unterschiedliche Themen wie Schule, Gesundheit, Medien, Religion, politische Partizipation, gesellschaftliche Teilhabe. Bezogen auf die Lebenswirklichkeit der Migrantinnen und Migranten in dieser Stadt und in diesem Bundesland. Bei aller Unterschiedlichkeit der Diskussionen kreiste der Diskurs immer wieder um einen Kern-Aspekt: die Normalität der Vielfalt dieser Gesellschaft.
Diese Gesellschaft basiert auf dem politischen Fundament der Demokratie. Damit kommt den Menschenrechten eine besondere Bedeutung zu. Man könnte sagen, diese Gesellschaft lässt sich von der Idee der Menschenrechte und ihrer Durchsetzung leiten. Grundlegend für solche an den Menschenrechten orientierte Gesellschaften ist einerseits die Vorstellung der Diversität der Menschen, andererseits aber auch die Idee der Gleichheit. Vielfalt und Gleichheit sind in der Demokratie keine Widersprüche, sondern sie bedingen einander.
Wenn wir von Vielfalt sprechen, dann meinen wir vor allem Vielfalt der Eigenschaften, Vielfalt der Eigentümlichkeit der Menschen, der Besonderheit jedes Einzelnen. Wenn wir von Gleichheit sprechen, dann meinen wir vor allem Gleichheit der Rechte, Gleichheit des Anspruches auf ein menschenwürdiges Leben, Gleichheit der Entwicklungschancen. All dies soll in dieser Gesellschaft, hier in unserem Bundesland, in unserer Stadt, Normalität sein, für alle Menschen, die hier leben.
Neben der Einzigartigkeit des Individuums, neben der Gleichheit seiner Rechte auf Entfaltung der Persönlichkeit nach seinen Neigungen und Fähigkeiten und neben der Vielfalt der unterschiedlichen kulturellen Prägungen und Lebensentwürfe steht aber auch der Anspruch der menschenrechtsorientierten Gesellschaft auf Beachtung ihres Kanons kultureller, ethischer und politischer Werte. Das sind keine abstrakten Werte, sondern sie beziehen sich auf das konkrete Verhalten der Menschen zueinander und miteinander in den verschiedenen Lebensbereichen. Zu diesem Wertekanon gehören auch bestimmte Vorstellungen über die Art und Weise, wie man im Bereich der Beziehungen, in der Sexualität und in Bezug auf das Kinderkriegen und Kinderhaben mit einander umgehen sollte. Man könnte das eine bestimmte sexuelle und reproduktive Kultur nennen.
Unser Selbstverständnis als menschenrechtsorientierte Gesellschaft impliziert eine sexuelle und reproduktive Kultur, in der Bevormundung, Benachteiligung oder Diskriminierung fehl am Platz sind. Diese Kultur respektiert unterschiedliche sexuelle und partnerschaftliche Lebensweisen. Sie ist in der Lage, Geschlechterdifferenzen zu akzeptieren und damit tolerant umzugehen. Sie schätzt sexuelle Selbstbestimmung als soziale Kompetenz.
Nun ist dieser Wertekanon nicht vom Himmel gefallen oder war schon immer da. Vielmehr ist er im Laufe der Entwicklung der Gesellschaft, in vielen Konflikten, Auseinandersetzungen und gesellschaftlichen Diskursen entstanden. Und er entwickelt sich auch weiter, ist also selbst dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen. Migration ist ein Ergebnis solchen globalen gesellschaftlichen Wandel und bedingt selbst weiteren Wandel. Genau das stellt uns ganz offensichtlich vor gewisse Probleme.
In unseren komplizierten Lebenswelten können sich die Lebensverhältnisse unvermittelt und nachhaltig verändern. Dies gilt für Menschen mit Migrationsbiographie vielleicht noch stärker als für andere. Entwicklungen in der Partnerschaft, Fragen der Sexualität, Familienplanung und Schwangerschaft können Brüche in der Lebensplanung mit sich bringen, tief greifende und bedrohliche Veränderungen. Diese Aspekte des Lebens erfordern häufig individuelle Entscheidungen und Initiativen, von denen sich die Menschen überfordert fühlen. Viele von ihnen haben ihre überlieferten Lebenszusammenhänge verlassen und mussten sich in neuen Zusammenhängen zurechtfinden.
Dies ist das Handlungsfeld, in dem Beratungseinrichtungen wie Pro Familia agieren müssen. Dabei ist dies keine Herausforderung, vor der nur die Familienberatung steht. Die Etablierung migrationssensibler Angebote ist eine Querschnittsaufgabe/Herausforderung für alle sozialen Beratungsdienste. Diversity Mainstreaming steht ganz oben auf der Tagesordnung. Daraus folgert, dass sich die Beratungsdienste einem methodischen Lernprozess auf vielen Ebenen stellen müssen. Ein konsequentes, beharrliches Herangehen ist erforderlich, um migrationssensible Angebote fachlich gut und wirkungsvoll zu gestalten und einzusetzen. Sexualität, Sexualaufklärung, Verhütung, Familienplanung, Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch berühren in besonders hohem Maß die Anliegen von Menschen mit Migrationshintergrund. Im Vergleich zur alternden Aufnahmegesellschaft gehören sie in ihrer Mehrheit reproduktiven Altersgruppen an. In den jüngeren Altersgruppen, die die reproduktive Lebensphase noch vor sich haben, stellen sie in vielen Städten bereits Mehrheiten. Deutschlandweit hat inzwischen jedes dritte Kind unter fünf Jahren Migrationshintergrund, in größeren Städten sogar jedes zweite.
Dass wir mit einem Geschlechterverständnis oder mit einer sexuellen Kultur konfrontiert werden, die aus der Perspektive moderner, emanzipierter Urbanität kaum akzeptiert werden kann, ist nichts Migrationsspezifisches. Jede Gesellschaft, auch die deutsche, ist von Unterschieden gekennzeichnet, die zwischen Stadt und Land, zwischen Regionen oder Gesellschaftsschichten, aber auch zwischen den Individuen extrem sein können. Auch dass Migrantinnen und Migranten, die aus einem völlig anderen gesellschaftlichen Kontext stammen, in der Regel einen völlig anderen Wertekanon mitbringen, und damit auch völlig andere Auffassungen von Beziehung, Geschlechterrolle, Sexualität und Reproduktion, gehört inzwischen zu unserem Alltagswissen.
Wir leben aber in einer historischen Phase, in der sich durch die Rahmenbedingungen der Globalisierung, durch Mobilität und Kommunikation transkulturelle Räume herausbilden. In diesen transkulturellen, die Nationalstaaten überbordenden Räumen scheinen sich all diese kulturellen, ethischen und individuellen Auffassungen und Werte wie in einem gewaltigen Rührwerk zu vermischen.
Wir werden zunehmend mit Fragen und Anliegen konfrontiert, die eine Vorstellung säuberlich von einander getrennter und unterscheidbarer Wertgebäude und "Kulturen" nicht mehr bestätigen. Gerade haben wir gelernt, wie Menschen mit dem und dem kulturellen Hintergrund so sind, da stellen wir überrascht fest: so sind sie gar nicht mehr, nicht unbedingt!
Die Konflikte verlaufen nicht mehr "nur" entlang der Grenzlinien zwischen den Kulturen oder den Generationen oder zwischen verschiedenen Traditionen innerhalb einer Kultur. In den transkulturellen Räumen, die unser aller Lebenswirklichkeit bilden, können sich die Menschen ihrer Identität nicht mehr sicher sein. Die Identitäten selbst treten sozusagen Wanderungen in diesen Räumen an. Transkulturelle Identitäten wachsen heran. Es erscheint nicht mehr leicht, Antworten auf die Fragen des Lebens, der Familie, der eigenen Rolle zu formulieren. Jedenfalls sind es nicht mehr die Antworten, die von den vorherigen Generationen wie selbstverständlich bereitgehalten werden. Das Mädchen, das Rat sucht, weil es sich einen Partner anderer kultureller Herkunft gewählt hat, aber nicht mit der Familie brechen will, obwohl diese die Beziehung ablehnt, lässt sich nicht mehr so leicht einordnen. Die junge berufstätige, modern gekleidete Frau, die eine Hymen-Rekonstruktion wünscht, weil sie vielleicht bei der geplanten Reise in die erste Heimat eine Untersuchung ihrer Jungfräulichkeit über sich ergehen lassen muss, kann man nicht mehr pauschal als rückständig und unemanzipiert etikettieren. Immer häufiger treffen wir auf Menschen, bei denen alte und neue Tabus neben Tabubrüchen weiter existieren. Es ist nicht immer leicht, diese Ambivalenzen zu ertragen und Rat und Unterstützung ohne Widerwillen und Bevormundung zu geben. In diesen Konfrontationen mit der transkulturellen Realität werden wir nicht zuletzt auch mit den Konflikten und Widersprüchen in der eigenen biografischen und soziokulturellen Entwicklung konfrontiert.
Welche Art von Beratung wünschen sich also die Migrantinnen?
Sie wünschen sich keine Übertragung von vermeintlich unumstößlichen Emanzipationsstandards, sie wünschen sich ein bisschen Zweifel an der Allgemeingültigkeit von Verhütungsregeln.
Sie hoffen, dass eine erneute Schwangerschaft nicht gleich als Ausrutscher gesehen wird, sondern dass für sie Schwangerschaft auch etwas mit Liebe, auch etwas mit weiblicher Potenz zu tun haben kann.
Sie erwarten, dass Schwangerschaftsabbruch nicht mit Emanzipation gleich gesetzt wird, sie erwarten Respekt für ihren Kinderwunsch.
Sie mögen keine Häme, wenn sie dann vielleicht doch abbrechen, weil das in der Bewältigung ihrer Lebenssituation der einzige Ausweg scheint.
Sie ersehnen den Versuch der Beraterin, sie zu verstehen, sie ersehnen sich von der Beraterin ein Minimum an Horizontüberschreitung.
Kurz: Migrantinnen wünschen sich Akzeptanz ihrer Ambivalenzen. Sie wünschen sich das Ertragen ihrer Widersprüche, sie wünschen sich Wertschätzung ihres nicht in die Schublade Passens.
Aber ich vermute, das ist bei allen Frauen so, nicht nur bei Migrantinnen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit